Liebe auf den zweiten Blick

Die Flugdauer nach Gran Canaria ähnelte der nach Ägypten. Nur die Richtung war eine andere. Und das Klima hätte unterschiedlicher kaum sein können. Als wir das Flughafengebäude verlassen, strotze ich nicht vor Begeisterung: Ein grauer Schleier überdeckt die Sonne. Palmen biegen sich im Wind. Und ich friere. In Deutschland sind wir bei 35 Grad purem Sonnenschein aufgebrochen, hier sind es vielleicht schwache 25.

 

Schneller als gedacht bringt uns der fast leere Transfer-Bus Richtung Süden. Ganz vorne sitzt noch ein kleiner Junge, der eine Anhäufung von Windrädern bestaunt. Scheint sich zu lohnen hier. Es sind auffallend viele. Manuel checkt die Technik, während der Junge sagt: „Mama, sieh nur, sie tanzen.“ Mich rührt diese kindliche, abstrakte Ansicht der Dinge. Wie sehr wir mit den Jahren verlernen, unbeschwert zu sein. Wie sehr wir verlernen, nicht zu analysieren, nicht direkt zu bewerten. Hinter den Windrädern prallen Wellen gegen die Felswand. Wir fahren fast die ganze Strecke den Atlantik entlang.

 

Müde von der Reise und noch müder vom Alltag betreten wir die Eingangshalle des Riu Vistamar. Alles ist pompöser und moderner als erwartet. Der Empfang des Mitarbeiters ist herzlich und warm. Wir können ankommen, in diesem mehr als ungewöhnlichen Hotel. Die Rezeption befindet sich im 8. Stock, unser Zimmer im 2. Was das bedeutet, wird uns schnell klar: Treppen über Treppen. Stockwerke über Stockwerke. Und nicht nur das: Zum Meer sind es 130 Höhenmeter bergab. Und wieder bergauf! Aber das wussten wir natürlich schon vorher. Nichts ist wirklich selbsterklärend. Wir brauchen eine ganze Zeit, bis wir uns besser zurecht finden.

Als wir unser Zimmer das erste Mal betreten, kommt der wohl spannenste Moment: Manuel zieht den Vorhang zur Seite und fragt hoffnungsvoll: „Und?“ Mich packt ein Gefühl von Freiheit, Fülle, Frieden. Als stünde man auf einem Kreuzfahrtschiff. Der Atlantik vor unseren Füßen. Er schiebt die Glastür zur Seite und ich höre nur noch eines: Das Rauschen. Der Blick nach unten ist fast furchteinflösend, so viele Meter geht es nach unten. Das Riu Vistamar thront auf einem Felsvorsprung. Langsam beginne ich Gran Canaria in seiner wahren Schönheit zu sehen. Nicht in meiner ersten Bewertung von flüchtigen Eindrücken. In seiner ganzen Schönheit aus rötlicher Berglandschaft, dem ewig weitem Atlantik und dem milden, konstanten Klima. Das Meer, es tanzt. Liebe auf den zweiten Blick.

Ich bin bereit zu heilen. Hier. Jetzt. An diesem wundervollen Ort. Die Woche vor unserem Urlaub schleppe ich mich von Tag zu Tag. Kränkle immer leicht dahin. Mir ist übel. Alles scheint schwer in meinem Magen zu liegen. Alle Versuche, eine Änderung herbeizuführen, scheitern. Aber jetzt bin ich bereit, an diesem wunderschönen Ort, zu heilen. Innen und außen. Das eine bedingt das andere. Eine Reise bietet die Chance, sich neu zu verbinden. Durch neue Eindrücke Sichtweisen zu ändern. Kurse zu korrigieren. Ruhig zu werden. Ganz ruhig. Still. Ganz still.

 

Eure Nicole <3

2 Kommentare

  1. Liebe Nicole, ich bin beeindruckt. Mir lief tatsächlich die Gänsehaut. Deine Worte sagen mir dass dich auch der Alltag voll im Griff hat. Jetzt wünsche ich dir viel Freude und Entspannung an dem wundervollen Ort.

    • Liebe Ingrid, deine Worte tun so gut! Ich danke dir sehr für deine Wertschätzung ? ich glaube wir sehnen uns alle ein bisschen nach der Flucht vom Alltag. Bei mir war es dieses Mal wieder höchste Eisenbahn, kurzzeitig aus dem „Karussell“ auszusteigen. Hoffe es geht dir gut! LG Nicole

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